„Unfassbar, es hatte alles zu 100 Prozent geklappt“
Hallo, mein Name ist Gerhard und bei mir wurde im Alter von 68 Jahren eine Leukämie festgestellt. Hier ein Bericht über die Diagnose, die Therapie und die Nachsorge.
Die Diagnose
Im Sommer 2015 stellten sich nach und nach die, wie sich später herausstellen sollte, typischen Symptome ein: ab und zu Schwindelgefühle, blass, ewig müde und abgespannt. Zuerst schob ich die Anzeichen auf das Alter: „Man ist eben keine 30 mehr“. Aber spätestens als ich es Ende Juli dann ohne Pause nicht mehr vom Auto bis in den Supermarkt schaffte war klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Also ging ich dann am 27.07.2015 zum Hausarzt, der Blut abnahm und ein sogenanntes großes Blutbild machen ließ. Als großes Blutbild bezeichnen Mediziner eine Kombination aus kleinem Blutbild und dem sogenannten Differentialblutbild. Am nächsten Morgen sollte ich zur Befunderöffnung wiederkommen.
Die gestaltete sich sehr kurz. Die Blutwerte, insbesondere der Wert der Erythrozyten, also der roten Blutkörperchen, seien katastrophal. Ich solle sofort ein paar Sachen packen und zur Notaufnahme ins Krankenhaus fahren, dort wisse man bereits Bescheid. Also nach Hause, der Frau die schlechte Nachricht beibringen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht klar war um welche Krankheit es sich handeln könnte war uns klar, dass es wohl eine ernste Sache werden würde.
Im Krankenhaus wurde umgehend eine (wie ich damals glaubte) „Bluttransfusion“ eingeleitet. Heute weiß ich, dass mittlerweile fast ausschließlich Erythrozytenkonzentrate (Erythrozyten = rote Blutzellen) zur Anwendung kommen und Vollblut nur noch äußerst selten verwendet wird. 2 x 0,5 Liter versorgten mich wieder ausreichend mit roten Blutkörperchen. Da diese als Sauerstoffträger dienen, wurden alle Organe, welche bis dahin unterversorgt waren, wieder mit Sauerstoff versorgt; sofort fühlte ich mich deutlich besser.
Es folgten Röntgen, Magen- und Darmspiegelung und eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen. Nach einer Diagnose befragt hielten sich die Ärzte sehr bedeckt und verwiesen immer wieder darauf, dass man erst verschiedene Laborergebnisse abwarten müsse bevor man etwas sagen könne. Aber spätestens als ich die Einwilligung für eine Beckenkammbiopsie geben musste war mir klar, dass die Sache irgendwie auf Leukämie rauslaufen würde.
Nach 7 Tagen wurde ich am 30.07. mit der Diagnose „Verdacht auf Myelodysplastisches Syndrom (MDS)“ nach Hause entlassen. Aber immer noch war nicht klar ob das auch stimmte, die Ergebnisse der Knochenmarkprobe und weiterer Untersuchungen standen noch aus; es war eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen. In dieser Zeit wurden in der onkologischen Facharztpraxis hier in Sonneberg mehrfach frische rote Blutkörperchen transfundiert.
Nach gut 4 Wochen lagen dann die Befunde alle vor. Die neue Diagnose: Akute myeloische Leukämie (AML), entstanden aus MDS. Das war nun gar keine gute Nachricht. Unter Berücksichtigung meines Alters und dem Krankheitsstadium bestand unbehandelt eine Lebenserwartung von ca. einem halben Jahr. Schock pur! Gott sei Dank konnte die behandelnde Onkologin, Frau Dr. Stauch, sofort einen Platz in der Uniklinik in Jena für mich bekommen.
Der erste Aufenthalt (28.08. – 03. 09.) in der Uniklinik Jena
2 Tage nach der endgültigen Diagnose fand ich mich am 28.08.2015 in Jena ein. Auch hier war der erste Eindruck für mich schockierend, waren doch viele Menschen, welche auf der Onkologie (Station 500) auf dem Flur zu sehen waren, blass und kahlköpfig. Zudem schoben die meisten einen fahrbaren Infusionsständer, den sogenannten „Galgen“, neben sich her. Fast alle hingen eben den ganzen Tag über an verschiedenen Infusionen.
Nach ein, zwei Tagen war der Anblick aber völlig normal geworden, außerdem waren bis auf wenige Ausnahmen die Patienten alle guter Dinge. Also sollte man sich durch den ersten Eindruck nicht nervös machen lassen. Von vorne herein war klar, dass die einzige Chance die Krankheit zu überleben in einer Knochenmarktransplantation bestehen würde. Wobei der Begriff Knochenmark irreführend ist, denn nicht das Knochenmark an sich wird transplantiert, sondern Blutstammzellen.
Um aber Stammzellen transplantieren zu können muss vorher das vorhandene Knochenmark behandelt werden. Das passiert durch eine Chemotherapie, zu der in manchen Fällen zusätzlich auch noch Bestrahlungen nötig sind. Doch dazu später mehr. Das Problem dabei ist, dass diese Chemotherapie in der Regel körperlich sehr belastend ist. Patienten über 60 Jahre werden deshalb vorher ausgiebig untersucht um sicher zu stellen, dass die körperliche Verfassung ausreichend gut ist um die Prozedur zu überstehen. Diesem Zweck diente mein erster Aufenthalt in Jena.
Eine Woche lang wanderte ich von Abteilung zu Abteilung und wurde von Kopf bis Fuß „durch die Mangel gedreht“. Ich glaube mit Ausnahme der Gynäkologie und der Pathologie (Galgenhumor) habe ich alle Stationen durchlaufen. Das Ergebnis war erfreulich; einer Chemotherapie stand nichts im Weg. Besonders zu erwähnen ist, dass in dieser Woche auch ausführliche Gespräche zwischen behandelnden Ärzten, Stationspersonal, Patient und Angehörigen stattfanden.
Alle hatten eine Engelsgeduld und keine Frage blieb offen. Dadurch kam sofort ein absolutes Vertrauensverhältnis auf. Auch andere Patienten konnten das bestätigen. Ein absoluter Pluspunkt sich für Jena zu entscheiden. Außerdem ist Jena die einzige Klinik in Thüringen, welche Stammzellentransplantationen durchführt. Dann lieber von Anfang an nach dort zur Behandlung, das Ärzteteam kennt einen dann bereits wenn es soweit ist.
Der zweite Aufenthalt (07.09. – 09.10.)
Das Wochenende nach der Untersuchungswoche konnte ich zu Hause verbringen, danach ging es wieder in die Klinik. Die erste Chemotherapie stand an und vor der hatte ich eine Heidenangst. Meine Eltern waren beide an Krebs gestorben und ich hatte als Jugendlicher die Nebenwirkungen der ihrer Chemotherapie erlebt. Dass nach mehr als 50 Jahren ganz andere Therapien und Medikamente zur Verfügung stehen als damals hatte ich völlig ausgeblendet.
Die Angst vor der Chemotherapie war sogar so groß, dass ich im Vorfeld lange Zeit überlegt hatte, ob ich diese Behandlung überhaupt angehen sollte. Aber letztlich hat der Überlebenswille gesiegt und so war ich nun in Jena und wartete mit äußerst gemischten Gefühlen auf die ersten Infusionen. Was ich als durchaus angenehm empfand war wieder das Ambiente.
Ärzte, Pflegepersonal und Mitpatienten waren in der einen Woche, die ich ja schon da gewesen war, schon fast wie eine zweite Familie geworden. Man kannte einander und saß letztendlich in einem Boot. Um nicht jeden Tag einen neuen Venenzugang zu legen wurde mir ein zentraler Venenkatheder (ZVK) gelegt. Das ist ein dünner Kunststoffschlauch, der über eine Vene am Hals in das Venensystem eingeführt wird und dessen Ende vor dem rechten Vorhof des Herzens liegt. Über 2 der meist 3 Anschlüsse gelangen die Medikamente in den Körper, über den 3. Anschluss wird täglich Blut für die nötigen Untersuchungen abgenommen.
Der Eingriff selbst ist unangenehm aber mehr auch nicht. Der Katheder selbst wird nach kurzer Zeit gar nicht mehr wahrgenommen. Was mich völlig überraschte waren die Nebenwirkungen der Chemotherapie. Oder besser gesagt, das fast völlige Ausbleiben von Nebenwirkungen. Viele Patienten leiden während der Therapie an Durchfall, Erbrechen, Infektionen der Mundschleimhaut, Hautausschlag, Fieber, Haarausfall und vielen anderen Dingen mehr. Als ich den Ärzten gegenüber äußerte, ich hätte gar keine Nebenwirkungen gehabt, machten diese mir klar, dass ich (fast) alle auch hatte, aber in sehr abgeschwächter Form. Statt wie manche Patienten 41° und mehr Fieber hatte ich mich mit 39° begnügt, leichten Durchfall hatte ich einfach ignoriert und Hautausschlag hielt ich für nicht der Rede wert.
In meiner fast schon Panik hatte ich auf schlimmste Komplikationen gewartet und die vorhanden Nebenwirkungen gar nicht registriert. Nachdem mir das klar (gemacht worden) war, kam die große Erleichterung und ich konnte die ganze Sache mit Humor nehmen. So kam es zu einer „Beschwerde“ darüber, dass die tintenblaue Flüssigkeit, welche mir in die Venen gepumpt wurde wohl doch kein „Blue Curacao“ gewesen sei usw. Gelassen konnte ich nun die restliche Zeit verbringen und wurde am 09.10. entlassen. Geplant war eine Woche zu Hause, danach sollte ich zur nächsten Chemo-Phase wieder zur Klinik kommen.
Der dritte Aufenthalt (03.11. – 01.12.)
Aus der geplanten einen Woche Pause wurden fast vier, da durch akute Fälle die Betten der Station 500 alle belegt waren. Ansonsten lief fast alles wie bei dem 2. Aufenthalt ab. Das nun schon gewohnte Umfeld, die Mitpatienten, das Ärzte- und Pflegeteam – alles wirkte vertraut und nicht mehr verunsichernd.
Es wird immer wieder mal darüber berichtet, dass man die vorbereitende Chemotherapie auch ambulant von zu Hause aus machen könnte. Das stimmt prinzipiell. Allerdings raten fast alle Ärzte davon ab, da es immer zu Komplikationen kommen kann, die ein schnelles Handeln erfordern. Und genau dazu sollte es bei mir kommen. Man hatte den ZVK dieses Mal nicht in die Halsvene eingeführt sondern in eine Vene unterhalb des Schlüsselbeins. An und für sich ist das egal; es wird mal so, mal so gemacht.
Eines Nachts gegen 3:30 Uhr fühlte ich plötzlich, dass es im Brustbereich irgendwie warm wurde. Ein Blick dahin ergab, dass aus der Einstichstelle des ZVK Blut austrat. Innerhalb einer Minute war dann auch die diensthabende Ärztin da. Das Problem war, dass durch die Medikamente die Blutgerinnung (gewollt) fast gänzlich unterbunden war. So war es schwierig die Blutung zu stoppen. Aber nach gut einer halben Stunde war das geschafft und es blieb nur noch die riesige Schweinerei zu beheben. Bett, Schlafanzug usw. waren voller Blut. Warum das Blut ausgetreten war konnte auch am nächsten Tag nicht geklärt werden. Bisher war eine derartige Komplikation nicht bekannt.
Zwei Nächte später: gleiche Zeit, gleicher Ort, gleiches Problem. Wieder fing die Einstichstelle an zu bluten. Diesmal sogar noch heftiger als das erste Mal. Der diesmal diensthabende Arzt brauchte fast eine Dreiviertelstunde um die Blutung zu stoppen. Aufräumen, sauber machen und weiterschlafen war danach angesagt.
Wieder zwei Nächte später, man hätte fast die Uhr danach stellen können: Starke Blutung aus der Einstichstelle. Diesmal konnte man sogar sehen, wie das Blut heraus spritzte. An sich unmöglich, da derartige Blutungen nur bei Arterien und nicht bei Venen auftreten. Und unterhalb des Schlüsselbeines verläuft nun mal keine Arterie.
Diesmal war die Ärztin sogar noch schneller da, die Blutung musste schnellstens gestoppt werden. Parallel wurde der Blutdruck gemessen, dieser war mit 195 deutlich zu hoch und förderte damit natürlich die Blutung. Also wurde ein Blutdruck senkendes Mittel (zwei Spritzer des Medikamentes unter die Zunge) verabreicht. Und dann ging alles ganz schnell. Wenige Sekunden danach bekam ich kalten Schweißausbruch, Schwindelgefühle und den sogenannten Tunnelblick.
Ein mobiles EKG-Gerät war nach wenigen Sekunden angeschlossen und so konnte ich beobachten wie der Blutdruck sehr schnell fiel. In nicht mal 90 Sekunden war er von 195 auf 43 (oberer Wert!) gefallen. Wäre hier nicht ein Arzt vor Ort gewesen hätte die Sache tödlich verlaufen können. Nach gut einer Stunde war alles wieder im Griff, nur wusste immer noch niemand warum diese Blutungen immer wieder und immer heftiger auftraten.
Und so kam, was kommen musste. Wieder 2 Nächte später, wieder gegen 3:30 Uhr: erneute Blutung, allerdings nicht so stark wie die vorhergehenden Male. Der Rest war dann schon fast Routine. Die Ursache sollte sich erst nach einer MRT Untersuchung herausstellen. In der Vene hatte sich an der Einstichstelle ein Pfropf gebildet, der die Vene mehr oder weniger verstopfte. Dadurch staute sich das Blut und drückte dann nach außen.
Auch wenn eine ambulante Chemotherapie grundsätzlich möglich ist, so würde ich immer dazu raten, sie stationär durchzuführen. Zu groß ist das Risiko, dass Nebenwirkungen oder andere Komplikationen auftreten. Am 1.12. wurde ich entlassen und konnte Weihnachten 2015 und den Jahreswechsel zu Hause verbringen. Der „Endspurt“, die Transplantation, sollte ab dem 7. Januar 2016 erfolgen.
Station 500 im Uniklinikum Jena (1. – 3. Aufenthalt)
Auf Station 500 werden Patienten behandelt, welche an den verschiedensten Leukämien erkrankt sind. Entsprechend unterschiedlich sind auch die entsprechenden Therapien. Allen gemeinsam ist meines Wissens aber, dass sie sich einer Chemotherapie unterwerfen müssen. Bei manchen ist danach Schluss, anderen steht noch eine Strahlentherapie und/ oder eine weitere „Chemo“ mit anschließender Stammzellentransplantation bevor. Diejenigen, denen dies noch bevor stand, haben die Station deshalb auch scherzhaft „Trainingslager“ genannt.
Die weitere Therapie wird dann auf der KMT (Knochenmark Transplantation) Station 520, der Mildred-Scheel-Station, durchgeführt. Die Ärztin Mildred Scheel gründete 1974 die Deutschen Krebshilfe und verstarb bereits 1985 selbst an einer Krebserkrankung. Dazu mehr im Kapitel „4. Aufenthalt“.
Für jeden, der neu auf 500 aufgenommen wurde, war zunächst der Zugang zur Station ungewohnt. So konnte die Station nicht direkt betreten werden sondern musste, nach Klingeln, vom Pflegepersonal geöffnet werden. Grund waren die strengen Hygienevorschriften. Überall hingen Spender an welchen die Hände desinfiziert und Mundschutz oder Handschuhe entnommen werden konnten.
Je nach Stadium der Chemotherapie kam man in die sogenannte „Umkehrisolierung“. Das bedeutete besondere Speisenzubereitung (alles auf mindestens 80° C erhitzt) und andere Schutzmaßnahmen. So mussten z.B. Besucher beim Betreten und Patienten beim Verlassen der Station Mundschutz anlegen. Prinzipiell konnte man aber Besuch empfangen und z.B. die Krankenhausbibliothek aufsuchen, man war (noch) relativ mobil und bekam vom Geschehen außerhalb des Zimmers, der Station und der Klinik noch einiges mit. Das alles sollte sich auf Station 520 drastisch ändern.
Der vierte Aufenthalt (07.01. – 10.02.2016)
Bereits gegen Ende der vorbereitenden Chemotherapie haben die Patienten und deren Angehörige die Gelegenheit mit der Oberärztin der KMT, Frau Dr. Hilgendorf, ein ausführliches Gespräch zu führen und die Station 520 kennen zu lernen. Auch hier gilt, was ich schon zu der Station 500 gesagt habe: Es stellte sich sofort ein absolutes Vertrauensverhältnis zu den Ärzten und dem Pflegepersonal ein. Ein herzliches Dankeschön an das gesamte Team.
So war die Prozedur beim „Check-In“ nicht mehr unbekannt. Vor dem Betreten der Station geht es für alle (auch Stationspersonal) erst mal durch die Eingangsschleuse. Dort werden die Oberbekleidung ab- und eine hellgrüne Krankenhausbekleidung (Kasack und Hose) angelegt. Über die Schuhe kommt ein Plastiküberzug. Um vom Flur in das Zimmer zu gelangen, muss man durch eine zweite Schleuse. Bei dieser wird immer nur eine Tür geöffnet, da im Krankenzimmer ein leichter Überdruck aus besonders gefilterter keimarmer Luft herrscht.
Ist die Chemotherapie erst einmal begonnen, ist bereits die Schleuse für den Patienten tabu. Das bedeutet, er ist in seinem Zimmer auf unbestimmte Zeit (in der Regel 4 – 8 Wochen) in „Einzelhaft“. Das Zimmer selbst ist, um es möglichst keimfrei halten zu können, sehr spartanisch eingerichtet. Links und rechts neben dem Bett gibt es an der Wand je ein Gestell. An dem einen sind ca. 20 Infusionspumpen zum Dosieren der Medikamente angebracht, das andere nimmt die Geräte zum Messen des Blutdrucks, des Blutsauerstoff sowie ein EKG auf. Vervollständigt wird das Mobiliar durch einen kleinen Tisch und einen Stuhl. Gegenüber dem Bett ist an der Wand ein Fernsehgerät. Das war´s dann aber auch.
Alles andere wie Wäsche usw. ist in der Schleuse und für den Patienten somit unerreichbar. Besuch kann empfangen werden, er ist aber auf 2 namentlich zu benennende Angehörige beschränkt. Diese müssen sich aber, ebenso wie alle Personen, welche das Zimmer betreten müssen, in der Schleuse anziehen. Schutzkittel, Haube, Mundschutz, Handschuhe sind angesagt. Das bedeutet, dass man bis zur Entlassung nur noch die Augen der Personen sieht mit welchen man in Kontakt kommt. Es ist tatsächlich ein komischer Moment, in welchem man wieder einen Menschen „mit Gesicht“ sieht.
Hygiene ist das alles bestimmende Thema. Alles wird jeden Morgen erneuert. Das betrifft die angebrochene Flasche Selterswasser genauso wie Kekse oder ähnliches. Auch die Zahnbürste wird jeden Tag gewechselt. Während all dies von der Station gestellt wird, muss für die Wäsche selbst gesorgt werden. Jeden Morgen wird vom Pflegepersonal von den Strümpfen und der Leibwäsche bis hin zu frischem Schlafanzug alles bereit gelegt, was der Patient für den Tag braucht.
Und da kommt es schnell zu Problemen. Während man meistens bereits genügend Socken oder Unterwäsche hat, ist bei den Schlafanzügen schnell die Grenze erreicht. Bekommt man z.B. einmal pro Woche Besuch, braucht man ca. 15 Schlafanzüge (7 in der Klinik und 7 in der Wäsche). Bei 14-tägigem Besuchsrhythmus sind das schon 30 Stück! Auf regelmäßige Händedesinfektion wird ebenso geachtet, wie darauf, dass z.B. ein zu Boden gefallener Kugelschreiber nicht aufgehoben wird. Schwester rufen (die muss sich in der Schleuse natürlich erst umziehen, siehe oben), die hebt ihn auf und desinfiziert ihn. Est dann darf er wieder benutzt werden.
Eine Welt für sich, an die man sich erst mal gewöhnen muss. Aber man hat ja Zeit, viel Zeit!
Zwei Tage nach der Einlieferung wurde mir der nun schon bekannte zentrale Venenkatheder (ZVK) gelegt. Von dort gingen zwei dünne Spiralschläuche zu den beiden Sammelschienen an denen die 18 Infusionspumpen zum Dosieren der Medikamente zusammenliefen. Diese Schläuche waren gerade lang genug um bis in die Nasszelle und zur Toilette zu reichen. Allein aus diesem Grund wäre es unmöglich gewesen das Zimmer zu verlassen. Sie blieben mit Ausnahme von ca. 20 Minuten am Morgen für eine Dusche (mit speziellem Filter im Duschkopf!) rund um die Uhr angeschlossen. Nur so war ein Überleben möglich, war doch das eigene Knochenmark weitgehend zerstört und funktionsunfähig. Keine neuen roten Blutkörperchen wurden mehr produziert. Alles zum leben Notwendige musste bis zur Transplantation durch diese 2 Röhrchen dem Körper zugeführt werden. Die wurden natürlich auch jeden Morgen erneuert …
Zur Chemotherapie selbst ist nicht viel zu sagen. Ich habe sie ohne größere Nebenwirkungen oder Komplikationen überstanden. Obwohl die eingesetzten Zytostatika, wie die Ärzte selbst sagten, „hammerhart“ waren. Wenn man von den Nebenwirkungen redet, so sind in 99 Prozent der Fälle die negativen Nebenwirkungen gemeint. Ich habe aber durchaus auch positive entdeckt. So z.B. rauche ich seit dem 28.07.2015 um 10:35 Uhr nicht mehr. Die letzte Zigarette war die auf der Fahrt zum Krankenhaus. Auch die äußerst starke Schuppenflechte, mit der ich seit Jahren zu kämpfen hatte ist spurlos verschwunden. Logisch, ist die Schuppenflechte doch eine Autoimmunkrankheit. Und wo kein Immunsystem mehr existiert kann es auch nicht falsch „ticken“.
Vor der Erkrankung hatte ich immer mal mehr oder weniger ernsthaft versucht abzunehmen. Kein Problem, im Herbst 2015 ich 92 kg, im April 2016 waren es 77! Manchmal ist es auch gut, wenn man etwas zuzusetzen hat. Na ja, mittlerweile sind es wieder an die 90 kg. Aber auch die nicht messbaren Erfahrungen haben mich bereichert. Trotz der lebensbedrohlichen Krankheit die alle belastete, hatten die meisten Patienten ihren Humor nicht verloren und wir hatten (auf 500, auf 520 war das ja nicht möglich) viel Spaß miteinander. Auch der Zusammenhalt untereinander wenn ein Mitpatient verstarb war eine beeindruckende Erfahrung.
Mit vielen Patienten dieser Zeit bin ich noch heute in gutem Kontakt, wir sind irgendwie eine verschworene Gemeinschaft geworden. Andere Effekte waren weniger dramatisch. Nach der Glatze kam auch der Haarwuchs wieder in Schwung. Und siehe da, ziemlich dunkle Haare, statt vorher fast weißer! Und nebenbei gab´s auch noch eine neue Blutgruppe: vorher A, jetzt B.
Die Transplantation
Am 19.01.2016 kam dann der große Tag – die Transplantation. So bedeutungsvoll das auch war, so unspektakulär war die praktische Durchführung. Das dramatischste waren die Vorbereitungen: der Arzt in voller „Verkleidung“ schloss EKG, Blutdruckmessgerät, Sauerstoffmessgerät und und und an um sozusagen „online“ die Vitalfunktionen zu überwachen.
Danach wurde ein rosarotes „Beutelchen“, die Stammzellen meines Spenders (knapp 0,4 Liter), an den Infusionsgalgen gehängt, am Handgelenk ein Venenzugang gelegt (die am Hals waren ja alle belegt ) und los ging´s – lass laufen.
Nach gut 20 Minuten war alles vorbei. Die neuen Stammzellen waren auf dem Weg in ihr neues zu Hause, mein Knochenmark. Irgendwelche Reaktionen des Körpers gab es keine und nach weiteren 30 Minuten war auch der Arzt wieder verschwunden. Nach einer weiteren Stunde ohne dass sich irgendetwas ereignet hätte wurden dann die ganzen Geräte auch wieder abgemacht. Der „Alltag“ war zurück.
Nun galt es abzuwarten. Man konnte nichts mehr tun außer zu hoffen, dass die neuen Stammzellen ihre Arbeit aufnehmen würden. 7 Tage, das war klar, würde es im Normalfall dauern. Dies war für mich die schlimmste Zeit. Nichts passierte mehr. Die Therapie war abgeschlossen. Keine Infusionen mehr – nichts außer abwarten. Dann, pünktlich am 7. Tag, zeigten die Laborwerte wieder etwas an. Zuerst waren die Leukozyten nicht mehr auf null, am nächsten Tag die Erythrozyten. Eine Woche später waren die Normalwerte schon fast wieder erreicht. Unfassbar, es hatte alles zu 100 Prozent geklappt!
Rekordverdächtige 21 Tage (!!) nach der Transplantation teilte mir dann bei einer Visite die Oberärztin so nebenbei mit, dass, so Originalton, meine Frau, wenn sie mich noch wolle, mich in 2 Tagen abholen könne. Man brauche die Betten schließlich für die Kranken. Auch hier wird das Verhältnis Arzt – Patient wieder deutlich. Nicht Götter in Weiß sondern Partner des Patienten! Ich war völlig perplex, dauert ein Aufenthalt normalerweise mindestens 5 Wochen.
Am 11. Februar 2016 wachte ich dann zum ersten Mal wieder zu Hause auf. In einem richtigen Zimmer. Ohne Schläuche. Mit Menschen, welche Gesichter hatten. Traumhaft!